Chris Higman zum Brexit

11.07.2016

Persönliche Erklärung des gebürtig britischen Stadtverordneten  Chris Higman zum Brexit

Verehrter Herr Stadtverordnetenvorsteher, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Schwalbacherinnen und Schwalbacher,
Am 23. Juni haben die Wahlberechtigten des Vereinigten Königreiches in einer Volksabstimmung für den Austritt aus der Europäischen Union votiert. Vorweg möchte ich sagen, dass ich dies für eine Fehlentscheidung halte, die europapolitisch, wirtschaftspolitisch und gesellschaftspolitisch für Großbritannien, Deutschland und für Europa im Allgemeinen desaströs ist. Aber hier in der Schwalbacher Stadtverordneten¬versammlung ist es nicht der Platz, diese Entscheidung politisch zu bewerten.
Mit dieser Abstimmung haben 17 Millionen Personen einen Beschluss gefasst, der mich voraussichtlich meinen Status als Unionsbürger kosten wird. (Nebenbei bemerkt: mir wurde das Wahlrecht für diese Entscheidung mit der Begründung versagt, ich hätte mich innerhalb der letzten 15 Jahre nicht in Großbritannien aufgehalten.)
Es ist damit zu rechnen, dass es etwa zwei Jahre dauern wird, bis es so weit ist. Trotzdem muss ich mir schon jetzt darüber Gedanken machen, wie ich damit umgehe, zumal der Verlust der Unionsbürgerschaft zwangsläufig mit meinem Ausscheiden aus dieser Stadtverordneten-versammlung verbunden wäre. Und so sehe ich mich in der Pflicht, meine Position in dieser extrem schwierigen Situation klarzustellen, zumindest so gut es im Moment geht.

Meine Damen und Herren,
ich bin überzeugter Europäer. Ich bin Jahrgang 1944. Ich habe den 2. großen europäischen Krieg nicht direkt erlebt –aber als Kind die Folgen davon sehr wohl. Quer durch Europa waren die Zeichen der Zerstörung und des Mangels zu sehen. Die kahlen, ausgebombten Flächen in den Städten und auch die Notwendigkeit, Essensmarken zu haben, wenn man Lebensmittel einkaufen wollte: das sind nur zwei persönliche Erinnerungen aus den Nachkriegsjahren, die in meinem Kopf unauslöschlich sind. Und ich weiß, unsere Eltern und viele andere haben viel, viel Schlimmeres erlebt.
Und seitdem haben wir 70 Jahre Frieden erlebt. 70 Jahre, in denen wir schrittweise aufeinander zugegangen sind; in denen wir etwas Gemeinsames aufgebaut haben, um das uns viele beneiden. Die Errungenschaften Europas werden von außerhalb bewundert. Ich denke nur ans Staunen von Freunden aus Slavgorod in Weißrussland, die bei uns zu Besuch waren, als wir am Frühstückstisch kurzerhand beschlossen, nach Frankreich zu fahren – und im Übrigen am Gebäude des Europäischen Parlaments in Straßburg vorbeigefahren sind.
Aber Europa ist nicht nur ein Konstrukt der Vernunft. Es ist für mich auch ein Stück Identität. Mein Ur-Ur-Großvater war britischer Pastor in Bonn. Seine Enkelin, meine Großmutter, ist in Rumänien geboren und in Hannover und Brüssel aufgewachsen. Ich habe in Afrika und in Indien gelebt. Ich bin oft in den USA oder China auf Geschäftsreise – und jedes Mal, wenn ich zurück auf europäischem Boden bin , habe ich das Gefühl, wieder zu Hause zu sein, unabhängig davon, ob ich in London, Frankfurt, Amsterdam oder Paris lande.
Und diese Identität wird mir plötzlich entzogen. Ich komme mir vor wie ausgestoßen – verwaist.

Meine Damen und Herren,
die Bürger Schwalbachs haben mich bei der Kommunalwahl in März in diese Stadtverordnetenversammlung gewählt. Es kann nicht sein, dass Leute in einem völlig anderen Teil Europas diese Wahl nichtig machen – auch nicht, wenn es 17 Millionen sind.
Aber das Leben geht weiter. Es muss. Über das Wie habe ich mich allerdings noch nicht entschieden. Am liebsten wäre mir die Möglichkeit einer unmittelbaren Unionsbürgerschaft. Da wäre ich der erste in der Warteschlange, wenn es so etwas gäbe. Natürlich verfolge ich mehrere Alternativen – auch wenn alle einen deutlichen Einschnitt in meinem Leben bedeuten werden. In diese Entscheidung werden viele Überlegungen hineingehen müssen: Wie kann ich meine Verantwortungen in Schwalbach langfristig weiter erfüllen? Wie kann ich dazu beitragen, den notwendigen Heilungsprozess im Vereinigten Königreich und Europa zu fördern? Und natürlich, wie steht es mit der Familie? Meine drei in Schwalbach aufgewachsenen Töchter, die jetzt in England wohnen, fühlen sich genauso im Stich gelassen als ich und meine Frau. Ein schon als Sommerurlaub geplantes Familientreffen in August wird auch als Familienrat dienen müssen.

Meine Damen und Herren,
ich habe in den letzten Tagen hier in Schwalbach viele Ausdrücke von Sympathie in dieser Situation erhalten, und dafür möchte ich mich bei allen bedanken. Und wie es weiter geht, darüber halte ich Euch auf den Laufenden.
Danke schön